„Vermisst im Osten“

Internationaler Tag er Vermissten
Dank des DRK-Suchdiensts konnte Lara das Schicksal ihres Urgroßvaters aufdecken.

Internationaler Tag der Vermissten: Wie eine Schülerin das Schicksal ihres im zweiten Weltkrieg verschollenen Ur-Großvaters erforschte und Gewissheit für ihre Familie erlangte.

Heinrich Evers galt jahrzehntelang als „vermisst im Osten 1944“. So steht es auf der Rückseite eines Armband-Anhängers von Lara Radings Großmutter. „Ich erinnere mich noch genau: Ich habe mir vor einigen Jahren an diesem Armband, das meine Großmutter oft trägt, die einzelnen Anhänger mit den Sternzeichen auf der Vorderseite angeschaut. Alle Angehörigen meiner Familie sind mit einem kleinen runden Anhänger ‚verewigt‘, und auf der Rückseite dieses einen Anhängers steht dieser eine Satz: ‚vermisst im Osten 1944‘. Als ich das las, habe ich meine Großmutter das erste Mal befragt‘, was das denn heißen würde, ob man nie mehr etwas von meinem Urgroßvater gehört habe, und was das für sie bedeutet“, sagt die heute 16-jährige Schülerin des Dresdner Kreuzgymnasiums.

Was mag geschehen sein?

Das zweite Schlüsselerlebnis zu der Frage, was aus Heinrich Evers geworden ist, ereignete sich vor anderthalb Jahren. „Ich habe zusammen mit einigen Familienangehörigen eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg im Fernsehen gesehen. Bei den Bildern von Soldaten auf dem Rückzug im Osten hat meine Großmutter mit den Tränen gekämpft. Als dann die Bilder von Rückkehrern aus dem Krieg auf dem Bildschirm zu sehen waren, hat sie den Raum verlassen mit den Worten ‚das kann ich nicht sehen, ich denke dann immer an meinen Vater.‘ So ist mir dieser Teil der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte plötzlich ganz nah gekommen. Wer war mein Urgroßvater? Was mag mit ihm geschehen sein?“

Für Lara Rading waren Anfang des Jahres 2019 beide Erlebnisse der Anstoß, die Suche nach Vermissten des Zweiten Weltkrieges und die Arbeit des DRK-Suchdienstes am Beispiel ihres Urgroßvaters Heinrich Evers zum Thema einer sogenannten „Komplexen Leistung“ in der Schule zu machen. Laras Großmutter Marita Landwehr, geborene Evers, war bei Kriegsende 1945 fünf Jahre alt und hat ihren Vater Heinrich Evers nie bewusst kennengelernt. Drei Mal war er als Soldat im Zweiten Weltkrieg zu Hause im niedersächsischen Dissen „auf Fronturlaub“. Doch das weiß Marita Landwehr nur durch die wenigen Fotos und Erzählungen ihrer Mutter. „Meine Großmutter hat keine bewussten Erinnerungen an ihren Vater und ist ohne ihn groß geworden“, sagt Enkelin Lara.

Umfangreiche Recherchen in Akten deutscher Kriegsgefangener

Zwar hatte die Großmutter bereits 1974 und 2013  Anfragen an den DRK-Suchdienst gestellt, doch die Erkenntnisse gingen dabei nie über die Tatsache hinaus, dass Heinrich Evers im Juni 1944 an der Ostfront in sowjetische Gefangenschaft geraten  und vermutlich kurz darauf verstorben ist. Erst die neuen Nachforschungen im Frühjahr 2019 bringen den Durchbruch. Am 5. März 2019 erhält Lara Rading vom DRK-Suchdienst eine Antwort. Darin heißt es, dass der Suchdienst in den vergangenen Jahren aus den Archivbeständen der Russischen Föderation Akten deutscher Kriegsgefangener erhalten habe: „Darunter konnten wir nach umfassenden Recherchen nun auch Unterlagen aus dem Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGWA) – Kriegsgefangenenakte und Karteikarte – für Ihren Angehörigen Heinrich Evers feststellen.“

Aus dieser auf Russisch abgefassten Akte geht hervor, „dass Heinrich Evers im Juni 1944 im Gebiet Witebsk, Weißrussland, in sowjetische Gefangenschaft geriet, und am 15.01.1945 im Lager Nr. 112 registriert wurde. Unserer Kenntnis nach befand sich das Lager Nr. 112 mit Standort der Hauptverwaltung damals in Berditschew, Gebiet Shitomir, Ukraine. Heinrich Evers ist schließlich am 24.03.1945 an Dystrophie 3. Grades verstorben und wurde auf dem zugehörigen Lagerfriedhof in Berditschew bestattet.“ Die Todesursache Dystrophie 3. Grades bedeutet: Heinrich Evers ist im Lager verhungert.

Lara Rading ist mit dem Ergebnis der neuen Nachforschungen mehr als zufrieden: „Denn meine Familie und ich haben nach all den Jahrzehnten nun endlich Gewissheit und einen Ort, an dem mein Urgroßvater bestattet wurde. Es ist gleichzeitig ein Stück deutscher Geschichte, denn wie meinem Urgroßvater, meiner Urgroßmutter und meiner Großmutter ging es Abertausenden von Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Und es betrifft nicht nur deutsche Geschichte und die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart, denn auch heute noch gibt es weltweit Kriege und es werden  Menschen vermisst – gesucht – und nicht immer gefunden.“

Der Anhänger am Armband ihrer Großmutter soll bald eine neue Gravur erhalten. Nicht mehr „vermisst im Osten 1944“ wird dann dort zu lesen sein, sondern: „gestorben am 24.3.1945“. Außerdem werden Lara und ihre Eltern voraussichtlich die Grabstelle von Heinrich Evers in der Ukraine besuchen.

Internationaler Tag er Vermissten
Dank des DRK-Suchdiensts konnte Lara das Schicksal ihres Urgroßvaters aufdecken.
DRK-Suchdienst
Laras Urgroßvater mit Laras Großmutter.
Unterstützen Sie jetzt ein Hilfsprojekt mit Ihrer Spende