Rudolf Seiters, Ex-Kanzleramtschef, ehemaliger Innenminister, 33 Jahre für die CDU im Bundestag, heute Präsident des DRK, sprach mit Volksstimme-Chefreporter Bernd Kaufholz über Verantwortung, die "Balkonszene" in der Prager Botschaft und die Schüsse in Bad Kleinen.
Volksstimme: Herr Seiters, das Wort "Verantwortung" scheint sich wie ein roter Faden durch Ihr Leben zu ziehen. Sehe ich das richtig?
Rudolf Seiters:Ich habe früh gelernt, was Verantwortung heißt. 1945 war ich sieben Jahre alt. Mein Vater war aus dem Weltkrieg als Versehrter wiedergekommen, ich hatte noch drei Geschwister und musste Pflichten übernehmen. Ich erfuhr, dass damit auch Erfolge und Freude verbunden sind. Später, in der Politik, habe ich auch immer wieder versucht, verantwortungsvoll zu handeln. Da schließe ich meinen Rücktritt als Bundesinnenminister 1993 ein.
Volksstimme: Ein gutes Stichwort. Doch dazu später. Sie haben als Bundesminister für besondere Aufgaben 1989 neben Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft gestanden. Der emotionalste Augenblick in Ihrer politischen Karriere? Oder doch der Mauerfall?
Seiters: Da muss ich nicht lange überlegen. Der Balkon. Wer gesehen hat, wie Familien mit ihren Kindern über die Zäune in eine ungewisse Zukunft geklettert sind. Dann am 30. September 1989 der Augenblick, als Genscher die ersten Worte seines Ausreise-Satzes sagte, der im Jubelschrei der Menschen unterging. Da sind mir die Tränen gekommen.
Volksstimme: Und die deutsche Einheit?
Seiters: Es ist ein großes Glück und eine große Freude für mich, politische Verantwortung in einer historischen Zeit getragen zu haben. Natürlich war für mich als geschichtsbewusster Mensch die Wiedervereinigung immer Thema. Aber als ich am 21. April 1989 unter Bundeskanzler Helmut Kohl Bundesminister für besondere Aufgaben, Kanzleramtschef und somit für die Verhandlungen mit der DDR zuständig wurde, habe ich nicht damit gerechnet, dass noch im selben Jahr die Mauer fällt.
Volksstimme: Wann war es für Sie klar, dass sich die Weltgeschichte auf die Wiedervereinigung zubewegt?
Seiters: Als Kohl Dresden am 19. Dezember 1989 besuchte und uns die DDR-Regierung mit ihren Bürgern alleingelassen hat. In der folgenden Nacht waren wir uns einig: Jetzt haben wir eine Chance.
Volksstimme: Machen wir einen zeitlichen Sprung ins Jahr 1993 zu den Schüssen auf dem Bahnhof in Bad Kleinen in Mecklenburg-Vorpommern und Ihrem Rücktritt als Innenminister. Auch da haben Sie Verantwortung übernommen.
Seiters: Bei vielen Menschen gab es damals und gibt es heute noch die Überzeugung, dass der Rücktritt nicht nötig gewesen wäre. Selbst Kohl hat mich damals gedrängt zu bleiben. Dochder Tod des RAF-Terroristen sowie des GSG-9-Beamten Michael Newrzellaund die erheblichen Fehler beim Einsatz, der Spurensuche und Tatortarbeit ließen mir keine andere Wahl.
Volksstimme: Bitte konkreter.
Seiters: Hände, Gesichter und Waffen waren nach dem Polizeieinsatz abgewischt worden, so dass es nicht mehr möglich war, Schmauchspuren festzustellen. Die Untersuchungen wurden dadurch so erschwert, dass es sechs Monate dauern sollte, bis ein halbwegs aussagefähiges Gutachten von zwei Spezialuniversitäten vorliegen sollte. Eine unerträgliche Situation für mich. Ich konnte nicht ein halbes Jahr lang vor die Öffentlichkeit treten und immer wieder beteuern: Wir müssen die Ergebnisse abwarten.Außerdem konnte ich damals auch keine Beamten zur Rechenschaft ziehen, die falsch gehandelt hatten. Das hätte wie ein Bauernopfer ausgesehen. Mein Rücktritt war somit doppelte Schadensbegrenzung: Ein Signal für die Öffentlichkeit - der Staat klärt auf und vertuscht nicht. Und eine würdelose Auseinandersetzung zwischen Justiz- und Innenressort über die Schuldfrage kam gar nicht erst auf.
Volksstimme: Ihr Rücktritt ging dann relativ schnell vonstatten.
Seiters: Am Sonnabendmittag wurde in der Pressevon einer "Hinrichtung" Grams gesprochen. Sonntagmorgen war ich in Bonn und habe mich gedanklich das erste Mal damit beschäftigt. Ich war mit mir im Reinen, habe aber wenige Stunden später in Abstimmung mit meiner Frau den Schritt getan.Aber: Der Rücktritt am 4. Juli 1993 hat mir damals nichts an politischem Einfluss genommen.
Volksstimme: Seit 2003 sind sie Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Was sind in nächster Zeit die wichtigsten Aufgaben?
Seiters: Ein Problem ergibt sich aus dem Bundesfreiwilligendienst. Zwar hat das DRK den Übergang vom Zivil- zum Bundesfreiwilligendienst gut geschafft, so haben wir 11000 Plätze für das freiwillige soziale Jahr und 2500 für den Bundesfreiwilligendienst.Besetzen könnten wir mehrals 5000 Stellen. Allerdings fördert der Bund insgesamt nur 35000 Stellen. Schade für die jungen Menschen, denendie Möglichkeit genommen wird, sich bürgerschaftlich zu engagieren. Das DRK hat an die Bundesregierung appelliert, die Stellen bis 2013 aufzustocken.
Volksstimme: 2013 feiert das DRK 150-jähriges Bestehen. Gibt esbesondere Vorhaben?
Seiters: Natürlich werden wir das Jubiläum nutzen, uns bei unseren Mitbürgern für viel Unterstützung zu bedanken und die humanitäre Arbeit des DRKweiter bekannt zu machen. Außerdem wollen wir mit dem Motto "Interkulturelle Öffnung" besonders neue Mitglieder unter Migranten werben. Damit sich diese Menschen für eine Zivilgesellschaft, die ja nun auch ihre ist, engagieren können.
Volksstimme: Das DRK macht sich bekannterweise für die Aufwertung von Pflegeberufen stark.
Seiters: Gesundheit-, Kranken-, Kinder- und Altenpflege müssen attraktiver werden. Denn die Zahl der Pflegebedürftigen wird von heute 2,25 auf 4,7 Millionen im Jahr 2050 ansteigen. Wir brauchen 800000 zusätzliche Pflegekräfte. Und das, wo heute schon Fachkräfte fehlen. Das DRK dringt auf eine umfassende Reform der Pflegebildung, ein "Berufegesetz" für Pflege. Auch da sind wir mit der Politik im Gespräch.
Artikel in der Volksstimme: www.volksstimme.de/nachrichten/deutschland_und_welt/meinung_und_debatte/812894_-Schuesse-in-Bad-Kleinen-Kohl-wollte-dass-ich-bleibe-Ex-Kanzleramts-Chef-und-heutiger-Praesident-des-Deutschen-Roten-Kreuzes-im-Gespraech-mi.html